Der mutige Angsthase

Interview mit Dr. Andreas Dick von Beat Hürlimann

Mut – eine wichtige Tugend.

Dr. Andreas Dick hat aus der eigenen Not eine Tugend entwickelt. Der am Zürichberg praktizierende Psychotherapeut und Buchautor sagt im Interview mit dem «Geschäftsführer»: «Um mutig zu sein, muss man über die Fähigkeit verfügen, Gefahren zu erkennen. Man handelt dann aber zugunsten eines höheren Ziels trotz der Gefahr und lässt sich von ihr nicht lähmen.» 

Wer führen will, muss entscheiden können, und nichts im Geschäftsführeralltag ist dabei hilfreicher als Mut, der aus Liebe hervorgeht und sich auf das Gute bezieht. Denn er ist in vielen Lebens­bereichen förderlich, vor allem aber im Umgang mit Ängsten, Unsicherheiten, ungünstigen Abhängigkeiten und alten Verletzungen. Ein Gespräch über Mut …

«Geschäftsführer»: Dr. Andreas Dick, sind Sie mutig?
Dr. Andreas Dick: Von meinem Grundnaturell her bin ich eher ein Angsthase. Deshalb stellt der Mut für mich eine wichtige Tugend dar, die es zu entwickeln gilt und die ich auch mehrmals unter Beweis gestellt habe. Zum Beispiel kündigte ich in den USA eine Top-Stelle und kehrte ohne berufliche Anschlusslösung in die Schweiz zurück. Ich habe dann eine Praxis eröffnet, bin damit ein Risiko eingegangen, das sich aus­bezahlte und das Mut erforderte. Ich hätte es aus Feigheit auch lassen können, was jedoch längerfristig wohl zu immer grösserer Unzufriedenheit geführt hätte.

Welche Rolle spielt Mut im Leben?
Es kommt darauf an, welche Rolle wir dem Mut in unserem Leben zuteilen! Bei einigen Menschen spielt er eine grosse Rolle, weil sie immer wieder mutig über ihren eigenen Schatten springen und sich in Lebensbereiche vorwagen, die neu und vielleicht mit Risiken behaftet sind, von denen sie sich aber einen grossen Gewinn erhoffen. Anderen Menschen täte mehr Mut gut, weil sie sich zu sehr an Situationen klammern, die sie zwar kennen, deren Veränderung ihnen aber als zu gefährlich oder zu widerwärtig erscheint. 

Welche Arten von Mut gibt es?
Man kann unterscheiden zwischen dem Mut zum Gestalten von Neuem, dem Mut zum Standhalten angesichts von Schwierigkeiten und dem Mut zum Loslassen von Ungünstigem. Diese drei Arten beziehen sich auf existenzielle Lebenssituationen. Mut zeigt sich aber auch im sozialen Zusammenleben als «Zivilcourage» sowie im Körperlichen, etwa beim Fallschirmspringen oder im Krieg. 

Was zeichnet mutige Menschen aus?
Der Mut setzt sich aus fünf Komponenten zusammen: Mutige Menschen wissen erstens um die möglichen Gefahren und überlegen sich klug, welche Handlung in einer bestimmten Situation sinnvoll ist. Zweitens besitzen sie die Hoffnung und das Selbstvertrauen, dass eine bestimmte Handlung oder der Verzicht auf eine Handlung zum Erfolg führt. Zum Dritten handeln sie aus freiem Willen und nicht unter Zwang; viertens sie sind bereit, ein gewisses Opfer zu erbringen oder eine Widerwärtigkeit auszuhalten. Und fünftens handeln sie aus uneigennütziger Liebe zu anderen Menschen oder aus echter Selbstfürsorge, nicht aus egoistischen Motiven heraus. 

Sie haben ein Buch geschrieben «Mut – Über sich hinauswachsen». Worum geht es darin?
In diesem Buch entwickle ich zunächst die oben genannten fünf Komponenten des Mutes. Anschliessend beschreibe ich den existenziellen Mut. Zu diesem gehört, sich aus Ängsten und Abhängigkeiten zu befreien, sich in Beziehungen vertrauensvoll hinzugeben, sich selbst anzunehmen, wie man ist, Krisen und Schicksalsschläge zu bewältigen, kreativ zu sein und Sinn zu finden. Im letzten Teil des Buches geht es um die Frage, wie man den Mut bei sich selbst entwickeln kann und wie man andere Menschen am besten ermutigt.

Wie kann man Mut als Eigenschaft entwickeln?
Wenn man sich den Mut in einer Art Fünf-Schritte-Programm in zwei Wochen systematisch antrainieren möchte, dann muss ich Sie leider  enttäuschen. Das funktioniert nicht. Aber jede Tugend, auch der Mut, lässt sich im Lauf des Lebens entwickeln, fördern und nutzen. Es geht um länger­fristige Prozesse, wozu eine Psychotherapie, eine Psychoanalyse, Seelsorge oder Meditation sinnvoll sein kann. Aber auch spontane Begegnungen mit wichtigen Menschen, die einen ermutigen, können bedeutsame Impulse verleihen. Bei ganz konkreten Lebensfragen, zum Beispiel angesichts eines Jobwechsels oder bei akuten Beziehungsproblemen, kann auch Coaching oder Beratung durch eine qualifizierte Fachperson helfen.

Wann ist weniger Mut mehr?
Wichtig ist sich zu fragen, ob es sich bei einer bestimmten Situation tatsächlich um eine «Mut-Situation» handelt, oder ob man auch feige und vorsichtig sein darf. Nicht immer ist Mut sinnvoll! Manchmal ist es besser, man wählt die sichere Variante. Das ist mit der Komponente der Klugheit gemeint, welche zum Mut dazugehört. Man sollte bei einer Abwägung der verschiedenen Handlungsmöglichkeiten nicht nur auf seinen Kopf hören, sondern sich auch emotional in die zur Verfügung stehenden Varianten einfühlen. Schliesslich lässt man sich dann von jenem Handlungsimpuls leiten, der die grösste körperlich gefühlte Überzeugungskraft besitzt, bei dem man sich physisch am kräftigsten oder am energiereichsten fühlt. Der ganze Organismus sollte Ja sagen können zu einem mutigen Schritt, nicht nur der Kopf – aber auch nicht nur ein diffuses Bauchgefühl.

Es gibt Menschen, die dominant auftreten, forsch reagieren oder sonst wie schwierig im Umgang sind, sodass man sich lieber erst gar nicht mit ihnen anlegt. Welche Rezepte gibt es für solche Momente?
Zunächst sollte man schauen, wer die Person ist und in welcher Beziehung man zu ihr steht. Geht es um eine flüchtige Begegnung, empfehle ich den Ärger zuzulassen, aber für sich zu behalten. Denn meistens macht man die Situation nur schlimmer, wenn man sich dazu berufen fühlt, der unangenehmen Person eine Lektion zu erteilen. 

Und wenn man diese Person besser kennt?
Handelt es sich bei dieser Person aber um den eigenen Vorgesetzten, dann wird es komplizierter. Man sollte einerseits vor dominanten, aber letztlich führungsunfähigen Chefs nicht allzu sehr kuschen, andererseits ist es auch ungünstig, sie frontal anzugreifen. Hier empfiehlt sich meist die Technik der «komplementären Beziehungsgestaltung»: Man gibt der Person auf der emotionalen Ebene, was sie sich wünscht, beispielsweise Anerkennung, darf aber auf der rationalen Ebene durchaus auch mal Nein sagen oder sich auf andere Weise abgrenzen. Etwa so: «Ich kann verstehen, dass Du das sofort brauchst. Um es seriös abzuklären, benötige ich aber zwei, drei Tage.»

Kann man Kinder zu mutigen Menschen erziehen?
Kinder benötigen zunächst eine sichere emotionale Basis mit viel Liebe, Wertschätzung und bedingungsloser Zuwendung. Das ist ein Leben lang wichtig. Man sollte dabei stets versuchen, die Erfahrung des Kindes zu verstehen, auch wenn sie anders ist als die eigene. Gleichzeitig, etwa ab dem zweiten Lebensjahr, sollte man das Erkundungs­be­dürfnis des Kindes för­dern, indem man ihm erlaubt zu spielen und die Dinge auszuprobieren, ihm aber auch vernünftige Grenzen setzt, zum Beispiel wenn etwas gefährlich ist. Am wichtigsten erscheint mir, dass man als Eltern gute Vorbilder abgibt in dem Sinne, dass man seine eigenen Ängste und Unsicherheiten konstruktiv bewältigt und sich davon nicht lähmen lässt.

Soll man Mut als Teil der Unternehmenskultur fördern?
Erst sollte man sich im Unternehmen klar darüber werden, in welchen Belangen mehr Mut sinnvoll wäre. Der Mut soll ja nicht als eine Art Allheilmittel beliebig und quasi blind angewandt werden. Geht es darum, sich mutig zu expandieren? Wäre es mutiger, sich auf das Kerngeschäft zu beschränken? Wünscht man sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mutig und ehrlich Fehler kommunizieren oder auf Führungsprobleme ihrer Vorgesetzten hinweisen? Geht es um den Mut, strukturelle Änderungen an der Organisation vorzunehmen, um die Abläufe einfacher und effizienter zu gestalten? Zwei Dinge scheinen mir angesichts solcher Fragen besonders wichtig: Erstens sollte der Mut nicht als Marketing-Floskel benutzt werden, um unethische oder unsoziale Massnahmen besser zu verkaufen. Und zweitens tut es meines Erachtens einem Unternehmen gut, wenn es möglichen Un-Mut seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ernst nimmt und den Mut aufbringt, bisher unhinterfragte Eigenarten der Unternehmenskultur zu hinterfragen.

Zum Schluss: Machen Sie uns Mut!
Haben Sie keine Angst, nach innen zu schauen und Ihren eigenen Dämonen zu begegnen! Sie besitzen nur diejenige Macht, die wir ihnen zugestehen. Es ist mutiger, sich den eigenen Ängsten, Unsicherheiten und Verletzungen zu stellen, als in der Aussenwelt Höchstleistungen anzustreben. Ein Leben im Seelenfrieden ist das grösste Glück, das es gibt.

 

Mut
Über sich hinauswachsen
Andreas Dick,
Erschienen in 2010,
Verlag Huber
ISBN 978-3456848358
264 Seiten

www.andreasdick.ch